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24.01.2022 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik

Musik in schwierigen Zeiten

Folge 277

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freunde der Kirchenmusik,

anlässlich des Todes von Christa Ludwig habe ich in Folge 167 bereits schon einmal ein Werk erwähnt, das heute ausführlicher vorgestellt werden soll: die Rückert-Lieder von Gustav Mahler.

1901 war ein entscheidendes Jahr für Mahler: Anfang des Jahres noch ernsthaft erkrankt, umwarb er später seine künftige Frau Alma. Vier der Rückert-Lieder wurden in jenem Sommer komponiert. Ein Jahr darauf komponierte Mahler schließlich noch das Lied Liebst du um Schönheit für seine junge Frau Alma, die er erst wenige Monate zuvor geheiratet hatte. Von jenem "Privatissimum" fertigte der Komponist auch keine Orchesterversion an; diese entstand erst posthum im Jahre 1916 durch den Kapellmeister und Musikschriftsteller Max Puttmann im Auftrag des Leipziger Verlags C. F. Kahnt.

Friedrich Rückerts Gedichte besitzen einen orientalischen Anklang, er selbst war eine Art Naturmystiker - beides Aspekte, die Mahler ansprachen. Dass Mahler seine Rückert-Lieder nicht als einen Zyklus im engeren Sinne betrachtete, legt neben dem Fehlen musikalisch vereinheitlichender Momente auch die Tatsache nahe, dass er sie nicht als ein in sich geschlossenes Opus veröffentlichen ließ und dass er die Lieder in unterschiedlicher Auswahl und wechselnder Reihenfolge aufführte. Die eher kammermusikalisch gehaltenen Rückert-Lieder sind im Gegensatz zu Mahlers großangelegten, von schroffen Kontrasten lebenden Sinfonien kurze, geschlossene Stücke und geprägt von einem tendenziell privaten, ja intimen Charakter.

Die Klänge des Liedes Ich atmet’ einen Lindenduft geben einem mit ihren sanft aufsteigenden und sich wieder auflösenden Melodie- und Klangwellen das Gefühl, als ob man Musik riechen könnte, so sehr wird hier der Duft zu Klang - Impressionismus für Nase und Ohren. Liebst Du um Schönheit ist ein einfaches, rührendes Liebeslied, das Mahler in der ersten Zeit der Ehe für seine Frau Alma schrieb, an die er auch bei der Komposition des berühmten Adagiettos der fünften Sinfonie dachte. Hört man Mahlers Musik in Blicke mir nicht in die Lieder, so hat man das Gefühl, als hätte er auch das Gedicht geschaffen, Wort und Musik bilden hier eine wunderbare Einheit.
 

Um Mitternacht führt vorerst in ganz dunkle Regionen. Allein schon durch die Orchesterbesetzung schafft Mahler in diesem Lied ein herbes Klangbild: ausschließlich Bläser, Pauken, Harfe und Klavier, aber keine Streicher. Lange verbleibt Mahler in unheimlicher Stimmung. Kein Licht, nur der schmerzhafte Herzschlag in der Finsternis. Doch dann die Hinwendung zur überirdischen Macht: Sie bringt die Erlösung aus der Nacht. Dafür lässt Mahler mit einem Mal den Glanz der Blechbläser aufleuchten und schafft eine überwältigende Steigerung mit einem prachtvollen Choral, der Kraft und Zuversicht schenkt. Hier gehen musikalische und philosophische Intentionen eine beeindruckende Synthese ein. 

Wie eine Liedversion vom entrückten Adagietto der fünften Sinfonie erscheint die Komposition Ich bin der Welt abhanden gekommen. Das Ineinanderschweben der Melodik und Harmonik, das kantable Hervortreten des Englischhorns, die erfüllte Ruhe: all das verursacht die Rückert’sche Grundstimmung von Weltentrückung. Kein negativer, dramatischer Abschied von der Welt, keineswegs der Tod, sondern ein Zurückziehen auf sich selbst: "Ich leb allein in meinem Himmel, in meinem Lieben, in meinem Lied", heißt es in den letzten Verszeilen.

Der eingangs erwähnte Konzertmitschnitt mit Christa Ludwig steht aktuell leider nicht mehr zur Verfügung, aber an guten Interpreten herrscht trotzdem kein Mangel. Sehr gerne empfehle ich Ihnen heute folgende Konzertmitschnitte, zunächst Christian Gerhaher mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Bernard Haitink, aufgezeichnet in der Münchner Philharmonie am 6. Februar 2015:

www.youtube.com/watch

Mahlers Rückert-Lieder in der Klavierfassung wurden am 11. Dezember 2012 im Wiener Musikverein von Renée Fleming und Maciej Pikulski aufgeführt:

www.youtube.com/watch

Beinahe schon ein historischer Mitschnitt: Jessye Norman mit dem New York Philharmonic unter der Leitung von Zubin Mehta, aufgezeichnet am 20. September 1989 in der Avery Fisher Hall:

www.youtube.com/watch

Ein vergleichsweise noch junger Mitschnitt: Magdalena Kozena mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Sir Simon Rattle, aufgezeichnet am 20. Juli 2020 in der Münchner Philharmonie:

www.youtube.com/watch

Seit vielen Jahren zählt für mich Thomas Hampson zu den herausragenden Mahler-Interpreten. Wenige Monate vor seinem Tod führte Leonard Bernstein mit den Wiener Philharmonikern im Februar 1990 Mahlers Rückert-Lieder im Wiener Musikverein mit dem jungen Bariton auf - der komplette Zyklus ist bei youtube aktuell nicht verfügbar, aber das Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen möchte ich Ihnen in dieser Ausgabe nicht vorenthalten:

www.youtube.com/watch

Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von Matthias Wengler