Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
am 1. Januar spielen die Wiener Philharmoniker wieder ihr traditionelles Neujahrskonzert. Dirigent ist diesmal Daniel Barenboim, der bereits zum dritten Mal eingeladen wurde und coronabedingt immerhin noch vor 1.000 Zuschauern im Wiener Musikverein auftreten kann. Bereits seit vielen Jahren begeistert mich dieser Ausnahme-Musiker. Eines der ersten Konzerte, das ich mit ihm live erlebt habe, wurde auch in Bild und Ton festgehalten: Vom Klavier aus leitete er am 15. Februar 1995 ein Beethoven-Programm, die weiteren Mitwirkenden waren Itzhak Perlman, Yo-Yo Ma, der Chor der Staatsoper Unter den Linden und die Berliner Philharmoniker. Die Werke der heutigen Ausgabe: Ludwig van Beethovens Tripelkonzert C-Dur op. 56 und die Chorfantasie op. 80.
Zu den Werken: Das Konzert für Violine, Violoncello, Klavier und Orchester C-Dur op. 56, das sogenannte "Tripelkonzert", entstand in den Jahren 1803/1804, einer sehr produktiven Phase des Komponisten, die auch die dritte Sinfonie hervorbrachte. Der vergleichsweise leichte Klavierpart war für den damals 16-jährigen Erzherzog Rudolph gedacht, einem Klavierschüler Beethovens. Höhere Anforderungen indes stellen der Violinpart, der für Carl August Seidler bestimmt war und vor allem der Cellopart, den Anton Kraft, seinerzeit Solocellist unter Joseph Haydn in der Esterházyschen Kapelle, ausüben sollte.
Beethovens Tripelkonzert dürfte kurz vor dem 9. Juni 1804 zum ersten Mal erklungen sein, vermutlich im Rahmen zweier Proben im Wiener Palais Lobkowitz und mit dem Komponisten am Klavier. Die breite Wiener Öffentlichkeit erfuhr erst in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ vom 23. Juni 1808 von seiner Existenz. Es sei „ein ganz neues Concertino von Beethoven für Pianoforte, Violine und Violoncello mit Begleitung des Orchesters“, das jedoch „keinen rechten Eingang“ gefunden habe, da es „fast nur aus Passagen“ bestehe, die „auf die drei Instrumente ziemlich gleich verteilt sind, mit der Zeit aber, für den Zuhörer, wie für den Spieler, gleich ermüdend“ seien. Am 18. Februar 1808 fand im Leipziger Gewandhaus dann wohl die erste öffentliche Aufführung des bereits gedruckten Werkes statt, das nie einen Platz im Konzertleben einnehmen sollte wie das Violinkonzert oder die beiden letzten Klavierkonzerte, in deren zeitlicher Nähe es entstand.
Mit Witz und revolutionärem Geist hat Ludwig van Beethoven in seinem Tripelkonzert ungewöhnliche Entscheidungen getroffen. Der erste Satz ist mit über 17 Minuten unerwartet lang, der langsame zweite dafür mit nicht einmal 5 Minuten erstaunlich kurz. Der dritte Satz bringt ein spritziges, volksliedhaftes Rondo alla Polacca - "auf polnische Art". Damit verschieben sich die musikalischen Traditionen eines Konzertes. Das Orchester ist nur zu Beginn dominant und gibt dann die Bühne frei für das Solistentrio. Das große Orchester liefert farbige Hintergrundtupfer. Dem Violoncello schreibt Beethoven eine besondere Rolle zu: es übernimmt die Führung im Solistentrio, stellt die meisten Themen vor und steigt in wahren Drahtseilakten in ungeahnte Höhen auf. Doch je anspruchsvoller und virtuoser der Cellist spielen muss, desto leichter und spielerischer sind die Melodien zu singen. Der kurze langsame Satz zum Beispiel ist eine einzige Cello-Arie. Viele sehen daher im Tripelkonzert das Cellokonzert, das Beethoven nie geschrieben hat.
Neue Aufmerksamkeit brachte 1969 eine Aufnahme mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern. Die Solisten waren der Geiger David Oistrach, der Cellist Mstislaw Rostropowitsch und der Pianist Swjatoslaw Richter. Rostropowitsch schreibt in seinen Erinnerungen dazu: "Ich habe versucht, Beethoven zu spielen, David hat geglaubt, er spielt Beethoven, Swjatoslaw spielte wie immer nur sich selbst und Karajan glaubte, er ist Beethoven." Die Spannungen und Differenzen unter den beteiligten Musikern werden bis heute oft und gerne zitiert.
Beethovens Chorfantasie op. 80 entstand sechzehn Jahre vor seiner neunten Sinfonie. Aufgrund der formalen Gemeinsamkeiten und der Ähnlichkeit der Hauptmelodie mit der "Ode an die Freude" wird die etwa zwanzigminütige Chorfantasie auch gerne als "Kleine Neunte" bezeichnet. Das Werk entstand ursprünglich für das berühmt-berüchtigte Akademiekonzert am 22. Dezember 1808 im unbeheizten Theater an der Wien, einem mammutartigen Abend, in dem Beethoven außerdem die Sinfonien Nr. 5 und 6 sowie das vierte Klavierkonzert, die Konzertarie "Ah perfido" op. 65 und Teile der Messe op. 86 aufführte.
Die erdrückende Länge des Programms (über vier Stunden!), fehlerhafte Noten und wenige Proben führten dazu, dass Beethoven, der trotz Ertaubung die Einleitung der Chorfantasie selbst am Klavier improvisierte, sie abbrechen und neu beginnen lassen musste. Er selbst berichtete dazu später: "Hauptsächlich waren die Musiker aufgebracht, dass indem aus Achtlosigkeit bei der einfachsten plansten Sache von der Welt gefehlt worden war, ich plötzlich stille ließ halten, und laut schrie: noch einmal."
Hier nun das Konzert vom 15. Februar 1995 aus der Berliner Philharmonie - und da ging wirklich nichts schief:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler