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10.10.2021 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik

Musik in schwierigen Zeiten

Folge 235

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute möchte ich Ihnen gleich zwei Musikstücke vorstellen: Vier ernste Gesänge op. 121 von Johannes Brahms, zunächst jedoch Arnold Schönbergs Verklärte Nacht op. 4 - beide Stücke sind 2014 auf das Programm eines Konzerts in Amsterdam gesetzt worden, das Ihnen per Link am Ende dieses Newsletters zur Verfügung steht.

Mit dem Namen Arnold Schönberg verbinden sich viele Reizwörter, allen voran "Atonalität" und "Zwölftonmusik". Aber gerade sein Streichsextett Verklärte Nacht wird als ein Gipfel spätromantischer Entwicklung anerkannt und ist eines seiner beliebtesten Werke.
 

Den Sommer des Jahres 1899 verbrachte der 24-jährige Arnold Schönberg zusammen mit Alexander Zemlinsky in Payerbach, das südlich von Wien gelegen ist. Es sollte eine sehr intensive Zeit werden. Schönberg verliebte sich dort in Mathilde Zemlinsky, die jüngere Schwester seines Freundes und Lehrers. Derart inspiriert komponierte er noch gleich vor Ort und Stelle innerhalb von nur drei Wochen das Streichsextett "Verklärte Nacht" nach einem Gedicht von Richard Dehmel. Der 1863 geborene Lyriker brach mit damaligen Tabus bürgerlicher Moral: Eine namenlose Frau berichtet ihrem Geliebten auf einem Gang durch die Nacht, von einem anderen Mann ein Kind zu erwarten. Ihr Gefährte nimmt daran keinen Anstoß, im Gegenteil, er will das Kind um der Liebe willen wie sein eigenes annehmen.

Schönberg schrieb "Verklärte Nacht" in seiner ersten, tonalen Schaffensphase. Sein Opus 4 trägt zwar bereits die Zeichen der kommenden Neuerungen in sich, ist aber noch fest in der Musiktradition verwurzelt. Suggestiv wird in Tönen ein Drama der Gefühle erzählt, das auch ohne Kenntnis der Vorlage in Bann zieht. Programmmusik in Kammerbesetzung – das ist neu. Von Strauss und Wagner kommt die kühne Harmonik, von Brahms die meisterhafte Verarbeitung der Motive.

Der Tonkünstlerverein lehnt die Partitur als zu modern ab. Arnold Rosé, der Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, setzt die Uraufführung am 18. März 1902 in Wien trotzdem durch. Das Publikum ist gespalten. Die meisten Hörer schweigen, ein paar junge Leute brüllen Bravo, andere zischen. Zehn Jahre später hört Richard Dehmel erstmals die Musik, die er inspiriert hat - und schreibt an Schönberg: "Ich hatte mir vorgenommen, die Motive meines Textes in Ihrer Komposition zu verfolgen; aber ich vergaß das bald, so wurde ich von der Komposition bezaubert." 


Hier zunächst erst einmal die Originalfassung für Streichsextett mit dem Quatuor Ebène (Pierre Colombet, Violine; Gabriel Le Magadure, Violine; Mathieu Herzog, Viola; Raphaël Merlin, Cello) sowie Arnaud Thorette, Viola und Felix Drake, Cello), der Mitschnitt entstand am 7. September 2014 beim Wissembourg Festival:


www.youtube.com/watch

Es ist nicht verwunderlich, dass Schönberg seiner Komposition große Bedeutung beimaß und sie als seine erste wirklich vollgültige ansah - eine Wertschätzung, die sich auch in den beiden Bearbeitungen für Streichorchester aus den Jahren 1917 und 1943 zeigt und im folgenden Link mit dem zweiten Musikstück des Tages zu sehen ist.

Zu den Vier ernsten Gesängen von Johannes Brahms:  Der Komponist schien geahnt zu haben, dass er - anders als Schubert oder Mozart - viel Zeit haben würde. 64 Lebensjahre wurden ihm beschert; von Hast oder Eile in seinem Werk keine Spur. Dennoch hat er mehrere Abschiedsgesänge komponiert. Die Zeit, in der Brahms seine Vier ernsten Gesänge schrieb, war für ihn von Schmerz und Verlusten geprägt. Es waren die Jahre zwischen 1892 und 1896; Brahms hatte den Tod besonders vieler Menschen zu verkraften, die ihm nahe standen: 1892 starb seine enge Freundin und heimliche Liebe Elisabeth von Herzogenberg, wenig später verlor Brahms seine Schwester und einen engen Künstlerfreund, den Dirigenten Hans von Bülow. Als Clara Schumann 1896 nach längerer Krankheit starb, waren die Lieder bereits fertig. Brahms äußerte: „Nicht gerade aus Anlass ihres Todes habe ich sie komponiert, aber die ganze Zeit her hatte ich eben wieder recht viel über den Tod nachgedacht, dessen ich ja oft und oft Gelegenheit habe zu gedenken.“ Brahms konnte sie seinen Freunden nicht ohne Tränen vorsingen. Nicht einmal ein Jahr später war auch Brahms tot.


Die Texte stammen überwiegend aus dem Alten Testament, es sind düstere Betrachtungen des Predigers Salomo und aus dem Buch Jesus Sirach. Sie sprechen von dem Menschen, dem Unrecht widerfährt, und klagen schmerzerfüllt an; sie spenden aber auch Trost und vermitteln Zuversicht. Kennzeichnend für Brahms’ Abschiedsgesang ist der beklemmend resignative Tonfall und die feierliche Strenge. Johannes Brahms war in Religionsfragen alles andere als dogmatisch. Seine Werke sind zwar in der christlichen Tradition verwurzelt und künden von einem tiefen Glauben, haben jedoch seit ihrer Entstehungszeit mit ihrem freien Umgang mit dem Bibelwort und ihren über Konfessions- und sogar Religionsgrenzen hinweg gültigen Botschaften nichts an Aussagekraft und Bedeutung eingebüßt. Dies gilt sowohl für die Vier ernsten Gesänge als auch für sein Deutsches Requiem.

Die Bearbeitung der Vier ernsten Gesänge für Bariton und Streichorchester wurde 2013 von der Amsterdam Sinfonietta in Auftrag gegeben und von dem britischen Komponisten David Matthews erstellt. Die Erstaufführung erfolgte am 25. Januar 2014 mit Thomas Hampson und der Amsterdam Sinfonietta im Forum am Schlosspark in Ludwigsburg. Ein Mitschnitt in dieser Fassung und mit dieser Besetzung ist im Anschluss an die Aufführung von Schönbergs Verklärter Nacht zu sehen, das Konzert fand am 28. Januar 2014 im Amsterdamer Concertgebouw statt:

www.youtube.com/watch
 

Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig

Matthias Wengler

Beitrag von Matthias Wengler