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14.03.2022 Kategorie: ElmMusik, ErkerodeMusik

Musik in schwierigen Zeiten - 296

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,

heute wird es philosophisch: Das Schicksalslied op. 54 von Johannes Brahms ist neben dem Deutschen Requiem wohl sein bekanntestes Chorwerk.

Im Schicksalslied kontrastiert Friedrich Hölderlin (1770–1843) das menschliche Leben mit dem der „seligen Genien“. Die menschliche Existenz ist fremdbestimmt, leidgeprägt und aussichtslos, das Dasein der überirdischen Geistwesen wird hingegen als still, klar und ewig beschrieben. Das in drei freien Strophen locker gewebte Gedicht ist Bestandteil des zweiten Bandes von Hölderlins Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland. Der Held des Romans, ein desillusionierter Freiheitskämpfer des 18. Jahrhunderts, singt die Verse in Erinnerung an seinen weisen Lehrer, der ihm in seiner Jugend die antike Mythologie vermittelt hat. Der düstere Inhalt des Gedichts spiegelt die depressive Weltsicht des Verfassers wieder, der die letzten 36 Lebensjahre in Privatpflege im Turmzimmer in Tübingen verbrachte und selbst einmal über sich schrieb: „Singen sollt ich leichten Gesang, doch nimmer gelingt mirs, denn es machet mein Glück nimmer die Rede mir leicht.“

Brahms' 20-minütiges Werk entstand 1868, unmittelbar nach der erfolgreichen Bremer Erstaufführung des Deutschen Requiems. Fertiggestellt wurde das Schicksalslied erst 1871, im Oktober desselben Jahres fand die Uraufführung in Karlsruhe unter der Leitung des mit Brahms befreundeten Dirigenten Hermann Levi statt. Die lange Entstehungszeit des Werks reflektiert die innere Auseinandersetzung des Komponisten mit dem letztlich doch pessimistischen Schicksalsbegriff, der sich in der Dichtung Hölderlins offenbart. Dass Brahms mit dem versöhnlichen Orchesternachspiel schließlich eine hoffnungsvolle Deutung anbot, hat ihm bis heute kritische Stellungnahmen verschafft. Doch der Zuhörende dankt es ihm: Nach einem resigniert-fatalistischen Beginn und den sehnsuchtsvollen Versen „Ihr wandelt droben im Licht auf weichem Boden, selige Genien“ bricht sich die Verzweiflung der Menschen Bahn: „Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn“. Das abschließende Adagio des Orchesters sublimiert diesen Fatalismus auf einzigartige und tröstliche Weise, die Musik überwindet das Wort.

Hier der Text des Schicksalsliedes von Friedrich Hölderlin:

Ihr wandelt droben im Licht 
Auf weichem Boden, selige Genien! 
Glänzende Götterlüfte Rühren euch leicht, 
Wie die Finger der Künstlerin 
Heilige Saiten. 

Schicksallos, wie der schlafende 
Säugling, atmen die Himmlischen; 
Keusch bewahrt 
In bescheidener Knospe, 
Blühet ewig 
Ihnen der Geist, 
Und die seligen Augen 
Blicken in stiller Ewiger Klarheit. 

Doch uns ist gegeben, 
Auf keiner Stätte zu ruhn, 
Es schwinden, es fallen 
Die leidenden Menschen 
Blindlings von einer Stunde zur andern, 
Wie Wasser von Klippe 
Zu Klippe geworfen, 
Jahrlang ins Ungewisse hinab. 

Unser heutiger Konzertmitschnitt kommt wieder einmal aus der Alten Oper Frankfurt: Am 25. Oktober 2013 wurde Brahms' Schicksalslied dort von dem Collegium Vocale Gent und dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Philippe Herreweghe aufgeführt:

www.youtube.com/watch

Beitrag von NR