Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Musikstück kommt aus Polen und stammt NICHT von Frédéric Chopin!: "Orawa" von Wojciech Kilar.
Millionen Menschen kennen Musik von Wojciech Kilar - aus Filmen wie "Der Pianist" und "Der Tod und das Mädchen" von Roman Polanski, "Dracula" von Francis Ford Coppola, "Pan Tadeusz" von Andrzej Wajda und "Portrait of a Lady" von Jane Campion. Kilars Komposition "Polonez" aus "Pan Tadeusz" wurde zu einem Hit in Polen, für seine Musik zu "Der Pianist" erhielt Kilar einen César.
Wojciech Kilar wurde in der heutigen ukrainischen Stadt Lwiw (Lemberg) geboren, als sie noch zu Polen gehörte. Nach erstem privatem Musikunterricht in seiner Heimatstadt studierte er Klavier und Komposition in Krakau und Kattowitz und nahm an den Darmstädter Ferienkursen teil. Über der Filmmusik geriet sein sonstiges kompositorisches Schaffen etwas ins Hintertreffen. Seine Chorwerke, sinfonischen und kammermusikalischen Stücke und Opern wurden außerdem nicht selten etwas abwertend als schöpferische Randerscheinungen eines "Filmmusikkomponisten" beurteilt.
Ebenso fand Wojciech Kilar - nach einer von Igor Strawinsky und Béla Bartók beeinflussten ersten Phase des Komponierens und einer folgenden heftigen Zwölftonperiode - zu einer Art Minimal Music, die bei ihm aber nicht etwa aus der Phasenverschiebung von musikalischen Motiven und harmonisch-motivischen Repetitionen entwickelt ist, sondern zuvorderst in der Volksmusik der karpatischen Regionen ihre Quellen hat. Der strenggläubige Christ wurde aber mitunter auch wegen seiner Überzeugung von Musik als göttlich inspirierter Schöpfung beargwöhnt. Freilich ließ er sich deshalb weder von seinem musikalischen noch seinem spirituellen Weg abbringen.
Im Tempel der Natur - der Fluss, das Land, die Berge: "Orawa", 1986 entstanden, ist eine knapp zehnminütige "Pastorale" des späten 20. Jahrhunderts. Der Titel bezieht sich auf die karpatische Region gleichen Namens an der polnisch-slowakischen Grenze: Dieser Gebirgslandschaft, ihren Schafweiden und ihrer ländliche Bevölkerung widmet Kilar ein musikalisches Portrait, gemalt mit einer Dialektik von Nostalgie, Naturelementen, ausladenden Phrasen, archaischen Rhythmen und altertümlich anmutender pentatonischer Melodik. Die Echos der Berghänge vibrieren in dieser Musik mit und geben ihr die Ausstrahlung einer aus quasi naivem Naturerleben empfundenen Ganzheit.
"Orawa" beginnt als Meditationsmusik im Tempel der Natur. Langsam verdichten sich die Harmonien, während die melodische Figur lange Zeit bei sich selbst bleibt. Dann gerät aber auch die Thematik in Bewegung und faltet sich wie eine Blüte auf. Mit dem ersten Fortissimo-Einsatz geht die ätherische Naturmusik plötzlich in ursprüngliche Volksmusik über: eine Schnittstelle, an der die Ursprünge von Kilars musikalischem Stil mit einem Mal erkennbar werden. Volkstänze der Karpaten-Region werden hör- und spürbar. Dann sinken die Dynamik und Bewegung wieder auf ein sanft pulsierendes Piano, das den harmonischen Grund einer wehmütigen Volksweise bildet, die vom Solo-Violoncello mit all der gesanglichen Intensität, die diesem Instrument innewohnt, intoniert wird. Die Violinen nehmen den Gesang auf und breiten ihn in großem Bogen aus. In der Begleitung der tieferen Streicher beginnt es aber etwas bedrohlich zu brodeln. Für Momente scheint der Herzschlag der Erde hörbar zu werden. Doch nun vereinen sich alle Instrumentengruppen zu einem bodenständigen Volkslied, dessen Metrum auf den Tanzboden übertragen wird und das zu einem temperamentvollen Abschluss führt.
Unser heutiger Mitschnitt kommt aus der Alten Oper in Frankfurt: Kilars "Orawa" stand am 19. November 2021 auf dem Konzertprogramm des hr-Sinfonieorchesters, Gastdirigent war Krzysztof Urbański:
www.youtube.com/watch
Und zum Vergleich noch eine Aufführung des Baltic Sea Youth Philharmonic unter der Leitung von Kristjan Järvi, aufgezeichnet 2015 im Théâtre des Champs-Elysées in Paris:
Ihnen allen einen schönen Tag mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler