Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
wann wird's mal wieder richtig Sommer? Die Antwort auf die Frage von Rudi Carrell aus den 1970er Jahren: Heute! Unser heutiges Musikstück steht schon lange auf meiner Wunschliste, für Mai 2022 ist eine Aufführung fest eingeplant: Les nuits d'été op. 7 von Hector Berlioz.
Der Titel ist jedoch irreführend. Keine lauen Sommernächte beschwört Hector Berlioz in seinem Liederzyklus Les nuits d’été herauf. Er schildert düstere Nächte voller Schwermut und Melancholie, Nächte der verlorenen Liebe, Nächte des Todes, schauerliche Nächte am Grab der verstorbenen Geliebten. Der Titel kann als Anspielung auf den "Sommernachtstraum" gelesen werden. Berlioz ist ein großer Shakespeare-Verehrer und heiratet sogar die englische Shakespeare-Darstellerin Harriet Smithson. Der Zeitpunkt der Komposition von "Les nuits d’été" fällt zusammen mit dem Scheitern der Ehe. Und obwohl der Berlioz selbst vieles im Unklaren lässt über die Bedeutung des Titels und die Entstehung dieser sechs Lieder, hat sie die Nachwelt als das künstlerische Zu-Grabe-Tragen seiner einstmals glühenden Liebe zu Harriet gedeutet.
Die Texte entnimmt Berlióz der Gedichtsammlung "La comédie de la mort - Die Komödie des Todes" seines Freundes Théophile Gautier, der Dichter wohnte in Paris ganz in seiner Nähe. Diese Gedichte erschienen 1838; es ist überliefert, dass Berlioz einige der Gedichte bereits im Manuskript kannte und sie vertonte, lange bevor das ganze Werk im Jahr 1841 vollendet war. Zuerst 1834 für Singstimme und Klavier geschrieben, orchestrierte Berlioz die sechs Lieder 1841 und gab sie als sein Opus 7 heraus. Die Lieder sind für Mezzosopran oder Tenor und Klavier geschrieben und Louise Bertin gewidmet, der Tochter von Louis Bertin, dem Herausgeber des Journal des débats. 1843 orchestrierte Berlioz das vierte Lied "Absence" für seine Geliebte Marie Recio; die übrigen Lieder orchestrierte er auf Anregung eines Verlegers für die Veröffentlichung 1856, nun mit verschiedenen Widmungen versehen.
Die duftige "Villanelle" steht als Verneigung vor dem ländlichen Frühling am Beginn des Zyklus. Von zarten Bläserstaccati begleitet, trübt sich der unbeschwerte Tonfall immer nur kurz ein, bleibt die zarte Lust am Erwachen der Natur und der Libido unbeschwert. In "La spectre de la rose" (Der Geist der Rose) meldet sich der Geist einer verwelkten Rose aus dem Jenseits zu Wort, die ihre letzten irdischen Stunden am Busen einer Ballkönigin verbracht hat. Am Schluss der ersten Strophe ist deutlich der Herzschlag im Orchester zu hören, und am Höhepunkt des Liedes, der Textstelle "Ce léger parfum est mon âme, et j’arrive du paradis" (Dieser Dufthauch ist meine Seele, und aus Eden komm’ ich her), schwingt sich die Singstimme berauscht auf, um sogleich wieder zurückzusinken in verklärtes Pianissimo.
Starb die Rose letztlich einen wünschenswerten Tod am Herzen einer schönen Frau, beklagt im dritten Lied, "Sur les lagunes: Lamento" (Auf den Lagunen: Lamento), ein venezianischer Fischer den schmerzlichen Verlust seiner Geliebten. Jede der drei Strophen endet mit der niederschmetternden Erkenntnis, dass er ohne Liebe weiterleben und das Meer befahren muss; die Singstimme stürzt dabei jedes Mal tief hinab. Zurück im Leben, wird in "L’absence" (Abwesenheit) das Fernsein von der Geliebten mitfühlend in herrlich innigen, weit gespannten Phrasen besungen. In morbide, romantische Friedhofsstimmung entführt "Au cimetière: clair de lune" (Auf dem Friedhof: Mondenschein). Bestimmt von schreitender Orchesterbegleitung und der um einen engen Tonraum kreisenden Singstimme wird darin eine gespenstische Szene beschworen. Im letzten Lied, "L’île inconnue" (Die unbekannte Insel), will eine schöne Frau das Ufer der Treue finden - und der schlagfertige Schiffer antwortet ihr, durchaus melancholisch, dass sie dorthin gewiss nie gelangen werde. Und damit schließt der Zyklus in so neckisch-spielerischer, leichter Stimmung, wie er begonnen hat.
Mit "Les Nuits d’été" begründet Berlióz Mitte des 19. Jahrhunderts die Gattung des Orchesterliedes, die in den Jahrzehnten danach immer populärer werden soll. Eine zyklische Aufführung dieser sechs Lieder, die zwischen schmerzhafter Vergangenheitsbewältigung und Aufbruch in eine Zukunft voller Tatendrang schwanken, findet zu Lebzeiten des Komponisten jedoch nicht mehr statt - ein weiteres der zahlreichen bislang ungelösten Rätsel um die Entstehung von "Les nuits d’été".
Zwei Konzertmitschnitte empfehle ich Ihnen heute sehr gerne, zunächst aus der Alten Oper Frankfurt vom 15. November 2013; Véronique Gens sang Berlioz' Les nuits d'été mit dem hr-Sinfonieorchester unter der Leitung von Lionel Bringuier:
Und noch ein Mitschnitt von den BBC-Proms vom 11. August 2019 aus der Londoner Royal Albert Hall mit Joyce DiDonato, dem National Youth Orchestra of the United States of America unter der Leitung von Sir Antonio Pappano:
www.youtube.com/watch