Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Kirchenmusik,
unser heutiges Werk ist eine der beliebtesten Ballett-Musiken des 20. Jahrhunderts: "Der Feuervogel" von Igor Strawinsky.
Mit diesem Ballett, in dem Strawinsky russische Märchenwelten in neuartige Klänge setzte, gelang dem Komponisten der weltweite Durchbruch. Bis dahin hatte er vor allem in St. Petersburg gewirkt. 1909 lernte der 27-jährige Komponist Sergej Diaghilew kennen. Ein glücklicher Zufall, denn eigentlich wollte der große Ballett-Impresario zunächst Nikolaj Tscherepnin und nach dessen Absage Anatoli Ljadow mit einer Ballettmusik beauftragen. Nachdem auch Ljadow ihm keine Zusage geben wollte, ging der Auftrag an den jungen Strawinsky. Aus der „dritten Wahl“ wurde noch weit mehr, denn danach erhielt er auch die Kompositionsaufträge zu „Petruschka“ und „Le sacre du printemps“. Diaghilew wurde damit zu einem der wichtigsten Förderer Strawinskys.
Der Choreograph und Librettist Mikhail Fokine ließ zwei bekannte russische Volksmärchen im Ballett-Stoff zusammenfließen: „Der Feuervogel“ und „Der Zauberer Kaschtschej“. Bei der Uraufführung im Jahr 1910 in der Pariser Opéra wurde die Handlung wie folgt zusammengefasst: „Iwan Zarewitsch sieht eines Tages einen wunderbaren Vogel ganz aus Gold und geflammtem Gefieder. Er verfolgt ihn, ohne ihn fangen zu können. Ihm gelingt es nur, diesem eine seiner Federn auszureißen. Die Verfolgung des Vogels hat ihn bis in den Herrschaftsbereich Kaschtschejs des Unsterblichen geführt, des gefürchteten Halbgottes, der sich seiner bemächtigen und ihn wie manchen Prinzen und manchen tapferen Ritter in Stein verwandeln will. Aber die Töchter Kaschtschejs und die dreizehn Prinzessinnen, seine Gefangenen, treten dazwischen und bemühen sich, Iwan Zarewitsch zu retten. Da kommt der Feuervogel herbei, der die Verzauberung löst. Das Schloss Kaschtschejs verschwindet, die jungen Mädchen, die Prinzessinnen, Iwan Zarewitsch und die vom Zauber befreiten Ritter ergreifen die kostbaren Goldäpfel seines Gartens.“
Die Uraufführung war ein voller Erfolg. Musikalisch verpackt Strawinsky das Spiel zwischen Gut und Böse in diatonische und chromatische Abschnitte. Zwischen diesen beiden Welten vermittelt der Feuervogel, der an beiden Sphären teilhat. Strawinskys Musik war im Gegensatz zu den meisten anderen Ballettkompositionen des ausgehenden 19. Jahrhunderts keineswegs mehr nur dekoratives Beiwerk und Begleitung des Tanzes. Vielmehr hatte Strawinsky zur Darstellung der Handlung und ihrer Charaktere derart visionäre, farbige Klänge erfunden, dass die instrumentatorisch und rhythmisch höchst elaborierte Musik auch außerhalb des Theaters überzeugte.
Das Ballett arbeitete Strawinsky bereits ein Jahr später zu einer Suite um. 1919 entstand dann eine weitere Version für ein kleineres Orchester, in der er die üppige Orchesterbesetzung reduzierte. Strawinsky zeigt in der Suite, wie sehr er es verstand, dank seiner perfekten Instrumentationskunst die Handlung des Balletts auch ohne Figuren auf der Bühne lebendig werden zu lassen. Die "Feuervogel"-Suiten entwickelten im Laufe der Jahre ein Eigenleben im Konzertsaal, die der Komponist selbst um die 1.000 Mal dirigiert hat.
Zu Strawinskys "Feuervogel"-Ballett gibt es heute eine ganze Reihe von Musikempfehlungen, zunächst eine rund sechsminütige Einführung mit Cristian Măcelaru. Der derzeitige Chefdirigent des WDR-Sinfonieorchesters beschreibt in seiner "Kurz und Klassik"-Werkeinführung nicht nur die Geschichte und die Entstehung des Balletts, sondern auch ganz persönliche Erinnerungen: Mit dem "Feuervogel" verbindet er einen einprägsamen Moment seiner Kindheit voller Emotionen und Gänsehaut:
Zum Kennenlernen hier zunächst die letzten 10 Minuten des Balletts, musiziert am 1. Juli 2018 bei den BMW Classics am Londoner Trafalgar Square mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Sir Simon Rattle (hier lohnt sich auch die Zugabe: der Galopp aus Dimitri Kabalewskys Ballett-Musik "The Comedians"):
Strawinskys "Feuervogel"-Suite aus dem Jahr 1919 ist im folgenden Link in einem Open-Air-Konzert zu erleben. Das hr-Sinfonieorchester spielte am 26. August 2015 unter der Leitung von Andrés Orozco-Estrada auf der Weseler Werft in Frankfurt am Main:
Die komplette Ballett-Musik stand im Jahr 2000 auf dem Programm der Salzburger Festspiele, die Wiener Philharmoniker musizierten unter der Leitung von Valery Gergiev - und länger als in diesem Konzert habe ich den Schlussakkord bisher noch nicht gehört:
Und als letzte Empfehlung für heute noch eine Ballettaufführung in der Choreographie von Mikhail Fokine: Das Kirov Ballett gastierte 2002 im Pariser Théâtre du Châtelet und brachte das "eigene" Orchester gleich mit - das Orchester des Mariinsky-Theaters wird geleitet von Mikhail Agrest:
Ihnen allen ein schönes Wochenende mit herzlichen Grüßen aus Braunschweig
Matthias Wengler
P.S.: Gestern Abend erhielt ich "nach Redaktionsschluss" noch einen weiteren Tipp, den ich hier sehr gerne noch ergänze: Die Berliner Philharmoniker haben am 19. September Strawinskys komplette Ballettmusik des "Feuervogels" im Rahmen eines Familienkonzertes in der Philharmonie aufgeführt. Chefdirigent Kirill Petrenko ist hier auch als Moderator zu erleben: